Ab morgen machen wir alle mit: Sprecherin Rebecca über die erste dezentrale digitale Rebellion Wave von XR

Fotos: Sebastian Höhn

Mit Kraft und Kunst im Kampf für Artenvielfalt, Ressourcenschutz und Klimaziele: Extinction Rebellion (XR) bringt zivilen Ungehorsam in die Mitte der Gesellschaft und motiviert jeden Tag neue Menschen zum Mitmachen. Ab morgen wieder ganz aktiv. Und im extra-großen Stil. Mit der ersten dezentralen und digitalen Rebellion Week. Vom 12. bis 21. Juni können sich alle, die mögen, niedrigschwellig am Protest gegen die ökologische Vollkatastrophe beteiligen. Wie immer klug, vielfältig, kreativ – und diesmal sogar vom eigenen Sofa aus. Zusätzlich versammeln sich die Rebell*innen und alle, die sie unterstützen wollen, vom 12. bis 14. Juni zum Online-Klima Festival.

Unter den drei aktuellen Haupforderungen von XR ist dabei die Bürger*innenversammlung als Update der Demokratie. Was diese genau funktionieren soll, was die Bewegung sonst noch ausmacht und warum die brandneuen Online-Aktionen auch Abwechslung für Rebellen mit potenziellem Protest Burnout bringen – das haben wir Rebecca Fleischmann (25), Sprecherin von XR-Deutschland, in einem langen aber höchst lehrreichen Gespräch auf dem Tempelhofer Feld in Berlin gefragt:

Mit Euren Forderungen und Aktionen wart ihr bisher natürlich eigentlich immer sehr sichtbar. Warum braucht es so dringend den lauten Protest auf der Straße?

Weil wir dringend Aufmerksamkeit auf das Thema Klimakrise und unsere Forderungen lenken möchten. Da ist Straßenprotest ein wichtiges Tool, um auch mediales Interesse auf den Ernst der Lage zu richten. Deshalb protestieren wir bunt und auffällig.

Und immer kreativ. Dennoch gibt es nach fast jeder Aktion auch Leute, die sich nur merken: „XR, das sind doch die, die mir die Straße versperren.“ Warum braucht es neben friedlichem Protest auch genau diesen zivilen Ungehorsam?

Weil uns allen nichts geschenkt wird. Die meisten unserer heutigen Rechte und Privilegien wurden historisch durch den Protest der Generationen vor uns erkämpft – hart erkämpft. Denn viele Menschen in wichtigen Positionen haben ein Interesse daran, den Status Quo aufrecht zu erhalten.

Wer? 

Die, die daran verdienen: an veralteter Technologie, veralteter fossiler Infrastruktur, an unserem liberalen Wirtschaftssystem. Und nachvollziehbarer Weise werden diese Leute ihre Privilegien auch weiter verteidigen. Aber irgendwann ist einfach mal Schluss! Für die Menschen im Globalen Süden ist jetzt schon Schluss. Und, was wohl viele vergessen: für uns wird das auch bald so sein. Es geht um eine existentielle Bedrohung aller. Da müssen wir ganz klar sagen: die Privilegien der Profiteur*innen können nie rechtfertigen, uns als gesamte Menschheit in dem Maße zu gefährden.

Was wir immer nicht verstehen: In vielen sozialpolitischen Bereichen können sich Entscheidungsträger absetzen, wenn ihre Entscheidungen zu Katastrophen oder ähnlichem führen. In der Klimakrise ist das anders: Die betrifft uns alle gemeinsam. Warum passiert trotzdem nichts? Können letztlich nur Bewegungen wie Eure das System durchbrechen?

Der Knackpunkt ist ja, dass es sehr viele Akteur*innen sind, die ein Interesse daran haben, mit dem veralteten System, in dem wir leben, Geld zu verdienen. Und dem spielen leider viele Medien- und Politik-Logiken in die Hände. Da gibt’s nicht den einen Verantwortlichen. Es gibt ein systemisches Problem. Und systemisch etwas zu ändern, ohne ein Blame Game zu spielen, ist die Herangehensweise von XR. Deshalb ist eine unserer Hauptforderungen das Update der Demokratie: Wir wollen Bürger*innenversammlungen, die Weitblick in die Diskussion bringen. Denn das kann unser repräsentatives politisches System – das auf kurze Legislaturperioden ausgerichtet ist – eben nicht leisten.

Weshalb seid Ihr Euch so sicher, dass die Bürger*innen in dieser Versammlung zu unserem Besten handeln würden? Besser als die derzeitigen Vertreter. Was passiert, wenn Klimaleugner*innen und Co. darunter sind; müsste man diese dann ausschließen?

Das wäre gar nicht nötig, da vertrauen wir auf den deliberativen Prozess, der dem Ganzen zugrunde liegt. Und das aus Erfahrung. In Frankreich und Großbritannien beispielsweise gibt es ja bereits Bürger*innenversammlungen. Und nicht zuletzt im alten Griechenland – wo sie als Urform der Demokratie entstanden sind. Und es gab auch aktuell schon politische Erfolge. In Irland hat sich gezeigt, dass sich das Meinungsbild in den Versammlungen im Zuge des Diskurses zugunsten progressiver Vorschläge verschoben hat.

Interessant. Und wie genau sehen die deliberativen Prozesse aus, von denen Du sprichst?

Vor den Versammlungen werden die Bürger*innen durch einen Informationsprozess geleitet, der von einem unabhängigen Gremium bereitgestellt wird. Dabei wird versucht, ihnen alle Perspektiven aufzuzeigen. Im Anschluss bekommen sie Zeit, gemeinsam zu beratschlagen, also zu deliberieren. Da steckt von Grund auf eine andere Systemlogik drin. In der repräsentativen Demokratie mit ihrer Parteipolitik geht’s ja immer auch um den eigenen Vorteil. Der Fokus des alternativen Modells liegt ergänzend auf gemeinsamer Problemlösung.

Glaubst Du, dass sich dadurch potentiell auch komplette Einstellungen ändern könnten? Beispielsweise hinsichtlich der aktuellen Unzufriedenheit in der sogenannten Mitte der Gesellschaft?

Ich glaube, es könnte einen Einfluss haben. Denn wenn eine Bürger*innenversammlung, die wirklich die Gesellschaft im Kleinen abbildet, eine Empfehlung ausspricht, dann hat das natürlich eine ganz andere Legitimität.

Also auch mehr Vertrauen in deren Entscheidungen?  

Das kann ich mir auf jeden Fall vorstellen. Es ist einen Versuch wert, eben weil wir auch schon gute Erfahrungen mit dem Bürgerrat Demokratie gemacht haben. Der ist sehr gut angekommen. Wir sind zuversichtlich, dass sich die Menschen dieser alternativen Idee verantwortungsbewusst nähern.

Bis es soweit ist, brecht Ihr Regeln, um Aufmerksamkeit auf, ich sag’ mal pauschal „die gute Sache“ zu lenken. Wie ist es denn anders herum? Würdest du Regeln und Gesetze befürworten, die Arten und  Ressourcen schützen, die Klimakatastrophe verhindern oder verlangsamen wird? Brauchen wir eine Politik, die da klare Vorschriften macht?

Ja. Ich glaube, das brauchen wir auf jeden Fall. Wobei natürlich immer abgewogen werden muss zwischen Freiheitsrechten und Vorschriften. Für mich persönlich kommt’s immer darauf an: Was ist denn wirklich ein Freiheitsrecht? Wir sehen es ja gerade bei Corona. Da wurden die Freiheitsrechte eingeschränkt – was meiner Meinung nach größtenteils auch notwendig war, da die Pandemie eine starke Bedrohung für die Gemeinschaft ist und war. Dennoch müssen wir uns fragen: Was sind in der Klimadebatte Freiheitsrechte? Ist SUV-Fahren ein Freiheitsrecht? Und jedes Jahr in den Urlaub nach Thailand zu fliegen? Wie stellt man das den Einschränkungen gegenüber, die andere Leute erleiden müssen? Jetzt schon werden ja Menschen vertrieben, weil ihr Zuhause unbewohnbar wird. Das ins Verhältnis zu setzen zu den Privilegien, die wir hier verlieren würden, ist total wichtig.

Dennoch ist ja leider das, was woanders auf der Welt passiert, offenbar nicht so greifbar für uns hier…

Absolut. Aber ich glaube trotzdem, dass bereits ein Umdenken stattgefunden hat. Gerade jetzt zu Corona-Zeiten. Vorher hatten viele das Gefühl, dass uns hier im Westen nicht wirklich „was passieren“ kann. Aber offensichtlich ist unsere gesellschaftliche Stabilität gar nicht so unerschütterlich, wie wir immer dachten. 

Ist das eine Art positiv zu bewertender Corona-Kollateralschaden?

Positiv würde ich das nicht nennen wollen. Aber daraus lernen müssen wir in jedem Fall. Das hängt ja auch alles zusammen. Je mehr Lebensräume wir einschränken, mit je mehr Tierarten wir in Berührung kommen, desto mehr erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit von Pandemien. Das bedeutet, dass Corona und andere Virus-Epidemien schon als eine Gefahr interpretiert werden können, die immer wahrscheinlicher wird, je weniger wir darauf achten, die Umwelt zu erhalten.

Und genau wegen dieser drängenden Wichtigkeit möchte man ja am liebsten mit allen raus auf die Straße gehen. Wie sehr hat sich Corona für Euch nach Bremse angefühlt? Findet ihr es schade, mit der Wave Euren Protest ab morgen dezentral aber auch online machen zu müssen – oder seht Ihr sogar Vorteile?

Schade daran ist natürlich, dass unsere Proteste von dem Gemeinschaftsgefühl und der Körperlichkeit gelebt haben, sich physisch zusammen auf die Straße zu setzen. Das war auch ein Gefühl von Befreiung: „Ich mach jetzt mal was. Ich rede nicht nur. Ich setze mich da körperlich hin und blockiere etwas.“ Das ist gut gegen diese Hilflosigkeit. Das Gefühl ist online wahrscheinlich nicht das Gleiche. Aber dafür haben wir ja auch die dezentralen Aktionen. In kleineren Aktionen sollte es leichter sein, die Corona-Auflagen einzuhalten. Vorteile der neuen Online-Protestformate können aber auch sein, dass Partizipationsmöglichkeiten geschaffen werden für Menschen, die Mobilitätseinschränkungen oder einfach nur weniger Zeit haben. Eine E-Mail zu schreiben oder Datteln 4 eine schlechte Googlebewertung zu verpassen hat ja eine viel niedrigere Barriere, als sich auf die Straße zu setzen. Auch im Internet kann man kreativ protestieren.

Und damit gebt ihr ja auch Anregung, außerhalb von bestimmten Zeiträumen selbst kreativ zu werden, oder?

Absolut. Insbesondere, die Möglichkeiten des Online-Raums zu aktivistischer Nutzung.

Wird das noch nicht oder zu wenig gemacht?

Doch, wird es schon. Aber ich glaube, dass sich der Protest speziell bei uns in der Klimabewegung hauptsächlich auf die Straße verlagert hat. Der physische Prozess stand lange im Vordergrund. Jetzt gibt’s ein wenig Abwechslung für die Rebellen. Damit verhindert man natürlich auch ein wenig das Aufkommen von Müdigkeit oder Burn-Out in den eigenen Reihen.

Glaubst Du allgemein, dass es sowas wie einen Aktivismus-Burn-Out gibt?

Ich denke schon. Vor allem in der Außenwahrnehmung. So ist Medienaufmerksamkeit beschaffen: Wenn nichts Neues kommt, ebbt sie ab.

Befürchtet Ihr, dass die Anonymität im Netz Eure Gruppendynamik schwächt?

Wir haben ohnehin einen Aktionskonsens, in den jeder einwilligt, der bei uns mitmacht. Der macht klar: Identitäten von anderen sind zu schützen und der schließt Gewalt auch ganz klar aus: sowohl verbale, als auch das Lahmlegen essentieller Infrastruktur, ohne die vielleicht sogar Menschenleben gefährdet werden.

Zusammenfassend heißt’s also auch hier: Die Gesellschaft soll gestört, aber nicht verletzt werden?

Business as Usual und Status Quo werden gestört, aber niemand soll zu Schaden kommen, das ist ganz wichtig zu betonen.

Woher nehmt ihr das Vertrauen, dass es da keine negativen Ausnahmen gibt?

Ausschließen kann man das natürlich nie. Allerdings betreiben wir Vorsorge, indem wir den Aktionskonsens klar und deutlich kommunizieren. Wir klären auch proaktiv gegen Verschwörungsideologien auf, sodass Leuten, die nicht bereit sind, sich an unsere Werte zu halten, signalisiert wird: Das wird bei uns nicht akzeptiert.

Passiert das oft? Dass ihr merkt: Mit dieser oder jener Person klappt das nicht. Oder ist’s mehr eine große homogene Gruppe?

Bisher haben wir da sehr gute Erfahrungen gemacht. Wichtig ist an dieser Stelle natürlich, festzuhalten, dass wir den Anspruch haben, divers und inklusiv zu sein. Das ist ja das paradoxe an Toleranz, um inklusiv und divers zu sein, dürfen wir Intoleranz nicht tolerieren.

Kommt es dir, gerade in deiner Position, manchmal so vor, als müsstest du bedachter sein, als du gerne wärst? Was ist dein Outlet für Frustration?

Gespräche mit Freunden. Gerade in der Zeit der Hallam-Interviews, in denen ganz grundsätzliche Fragen aufgekommen sind, haben wir gemerkt: Wir haben uns mit den Gründer*innen und ihrer Geschichte hier zu wenig auseinandergesetzt, wir waren da zu blauäugig. Da war enorm viel Frustration, Scham. Beim Drüber reden kam dann aber schnell die Einsicht: Das Konzept von XR und wie wir es erleben – als eine Bewegung mit ganz normalen Leuten, die vielleicht vorher gar nicht so politisch aktiv waren und beschlossen haben, in den zivilen Ungehorsam zu gehen – daran glauben wir. An die Mittel, die XR anwendet, um Veränderung herbeizuführen. Deshalb gab es auch für mich persönlich keine Alternative zum Weitermachen.

Und würdest du persönlich es ernsthaft in Kauf nehmen, dich dafür im Zweifel auch verhaftet zu lassen?

Wie weit ich da wann gehen möchte, entscheide ich immer persönlich und situativ.

Hältst Du es in der momentanen Situation für fahrlässig zu sagen: ich halte mich da raus?

Es gibt viele Protestformen. Gewaltfreien zivilen Ungehorsam auszuüben, ist ganz klar ein Privileg. Auch ein weißes Privileg. Wir können nicht erwarten, dass Menschen sich mit dieser Taktik anfreunden, die aufgrund von rassistischen Vorurteilen stärkere Repressionen zu erwarten haben. Deswegen achten wir darauf, auch legale Aktionen anzubieten.

Absolut wichtig und richtig. Und was ist mit denen, die die gleichen Privilegien genießen wie wir und dennoch sagen, sie halten sich raus?

Wir dürfen nicht in moral licensing verfallen: Zu sagen, ich kaufe Bio, deshalb muss ich mich nicht mehr politisch engagieren. Das wäre Wohlfühl-Ökotum. Wir alle sind gefragt, auf die Politik Einfluss zu nehmen. Aber natürlich habe ich auch Verständnis: Ich bin auch so privilegiert aufgewachsen. Aber eben auch mit der gesellschaftlichen Überzeugung, dass es unsere individuelle Verantwortung ist, etwas zu ändern. Und was passiert? Wir steuern immer noch auf die Katastrophe zu. Trotz Ökostrom und Bio.  Es kostet viel Kraft das eigene Bewusstsein zu ändern. Aber gleichzeitig müssen wir insbesondere an jene appellieren, die eben schon ein sensibilisiertes Bewusstsein haben und ihnen kommunizieren: Wir brauchen euch als politische Stimmen, auch als Teilnehmende des Protests!

Du klingst hinsichtlich dessen sehr emphatisch und verständnisvoll. Ist das ein Konsens bei euch?

Ja, weil wir vor kurzem selbst noch so gedacht haben.  Viele von uns waren politisch sehr unerfahren, als sie angefangen haben.

Was macht XR sonst noch besonders?

Dass wir so global vernetzt sind. Wir hören, sehen und können darauf eingehen, was gerade andernorts auf der Welt passiert, zum Beispiel während einer Dürreperiode in Indien. Diesen Austausch mit anderen Aktivist*innen zu haben, ist wichtig und schafft Nähe. Die Klimakatastrophe ist ein globales Problem, das wir global lösen müssen.

Zum Beispiel, in dem wir die Wave unterstützen. Macht mit!

FOTOS: Sebastian Höhn & XR Flickr

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