Autobahnzubringer, Elbbrücken, Industrie. In einem wenig spektakulären Betonbau auf dem Weg raus aus Hamburg liegt die Zentrale eines durchaus spektakulären kleinen Unternehmens: der Kleiderei. Vor der hanseatischen Holztür sitzen Pola Fendel, 26, und Thekla Wilkening, 28, und trinken Kaffee. Kurze Pause, dann nehmen sie uns im engen Aufzug mit in den vierten Stock. Dort öffnet sich ein Paradies für (Mode-)Mädchen. Jeans, Röcke, Abendkleider, Lederjacken, Designerpullis – die Kleiderei hat alles, was das Fashionherz begehrt. Und alles kann man haben. Allerdings nur auf Zeit. Nach dem Prinzip der Bücherei vergeben die Kleiderei-Girls Outfits auf Zeit. Eine Idee, die mehr als ein Geschäft ist.
Seit 2014 gibt es die Kleiderei. Habt Ihr gegründet, um bewusst den Slow-Fashion-Gedanken zu unterstützen?
T: Der Gedanke hat mit zur Kernidee gehört, ja. Er hat sich mit der Zeit aber sicher auch noch weiter entwickelt. Ich studiere ja Bekleidungstechnik und -Management. Ich weiß wie aufwendig nicht nur Herstellung, sondern auch Recycling ist. Natürlich war die Kleiderei-Idee witzig gemeint – aber immer auch mit einer gewissen Substanz. Sprich mit dem Fokus auch Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. Das gibt der Kleiderei die Relevanz. Und deshalb war es uns damals auch wichtig, schnell zu starten.
Am Anfang habt Ihr mal gesagt, dass die Fashionwelt eine Revolution braucht. Warum?
T: Weil Industrie und Wahrnehmung verändert werden müssen. Ich denke, die Gesellschaft unterschätzt die Modebranche. Viele sehen Mode als eine Art Spielerei. Dabei ist diese Branche eine der größten Industrien der Welt – und noch allübergreifender als zum Beispiel die Autoindustrie. Die Leute, die sich wirklich komplett von Mode freimachen, kann man wahrscheinlich an einer Hand abzählen.

Warum fällt es uns wohl so schwer, uns von Mode freizumachen?
P: Mode war schon immer Ausdrucksform Number One! Was für ein Mensch Du bist und wie Du dich fühlst, drückst Du am allermeisten über deine Kleidung aus.
T: Kleidung vor vielleicht zwei Tage mal Schutz! Danach war’s sofort ein Statement. Schon in der klassischen Antike hat man sich geschmückt mit seiner Toga. Da gab’s tausend Wickeltechniken. Da hat man sich die auch nicht einfach nur so umgeschmissen, damit einem nicht kalt ist. (lacht)
P: Das ist einfach drin!
T: Und das ist auch in Ordnung. Mode hat schließlich durchaus eine echte Magie! Hohe Schuhe oder ein bestimmtes Kleid können für einen Tag Dein Leben oder Lebensgefühl ändern.

Beim Sprechen wechseln sich Pola und Thekla gekonnt ab. Wir merken schnell: Die beiden sind Interviewprofis. Die Aufmerksamkeit für die Kleiderei, die statt als Onlineangebot zunächst als Laden gestartet ist, war von Anfang an groß. Zunächst wegen des Angebots, mittlerweile zunehmend auch wegen der Aussage. Mittlerweile werden Pola und Thekla auch auf Podiumsdiskussionen zum Thema Nachhaltigkeit eingeladen. Zum Glück, finden die selbst ernannten Teilzeit-Revolutionärinnen – die beide gleichzeitig durch besonders schicke Stilsicherheit auffallen.
Modisch und gleichzeitig nachhaltig zu leben schließt einander für Euch nicht aus, oder?
T: Ne, aber dass Mode oft so als überflüssiges Schickimickithema abgetan wird, spielt der Fastfashion-Industrie natürlich direkt in die Hände. Weil es so quasi salonfähig wird, möglichst wenig Geld für Kleidung auszugeben. Wer eine halbe Monatsmiete für einen Mantel ausgibt, wird verurteilt. Dabei ist so was eigentlich der richtige Preis für etwas aufwendig Produziertes, das Du jeden Tag trägst.
P: Es muss einfach wieder cool werden, sich Kleidung zu kaufen, weil man sie wirklich, wirklich haben und für immer lieben will. Nicht weil sie so billig ist, dass man sie einfach kauft, weil man’s kann. Uns geht es nicht nur darum, zu sagen: die Industrie ist beschissen. Wir wollen auch die Frage stellen: Wie kann man den Konsum wieder bewusster gestalten?

Nun ist es ja aber leider so, dass dem Für-Immer-Lieben-Aspekt gerne mal die Industrie in die Quere kommt: zum Beispiel mit der Vorgabe, dass diese Saison ein Blockabsatz in ist – und nächste schon wieder ein leicht angeschrägter Blockabsatz …
T: Das ist so. Man sagt immer so schnell das Wort Wegwerfgesellschaft – aber kaum jemand macht sich bewusst, wie viel wirklich weggeschmissen wird. Und die Modeindustrie arbeitet ganz klar darauf hin, dass man Kleider wegschmeißt.
Wächst die Wertschätzung bei Euch auch durch den Aspekt des Leihens? Weil man das jeweilige Teil dann ja nur einen begrenzten Zeitraum lang hat?
P: Ja. Und darüber hinaus kannst Du das ganze Spiel mit Mode, das Probieren, das Kombinieren, das Stilfinden, auch wirklich gut übers Leihen kompensieren. Und danach, so ist der Plan, weißt Du eben auch besser, was Du willst und was Dir steht – und machst entsprechend weniger Fehlkäufe. Außerdem wünschen wir uns, dass unsere Kundinnen durch die Kleiderei auch mehr hochwertige Materialien und gute Verarbeitung kennenlernen. Und erkennen, dass sich so was besser trägt.

Vermittlungskompetenz ist da, wie in so vielen Bereichen wahrscheinlich das A und O. Wie wichtig ist Euch Euer großes Onlinenetzwerk?
P: Uns ist es wichtig, Aufmerksamkeit und Bewusstsein zu wecken. Mit etwas was bewusst cool aussieht. Wir wollen nicht in einer Nische sein. Wir wollen alle erreichen – und vor allem die, die eben noch nicht drauf achten. So Meinungen wie: Highheels und Schminken geht nicht, weil is’ ja ’ne nachhaltige Bewegung teilen wir absolut nicht! Wir wollen hip und sexy wirken!
Das funktioniert. Finden wir zumindest! Habt Ihr trotzdem auch mit Vorurteilen zu kämpfen?
P: Hin und wieder. Mode wird wie eingangs gesagt gerne gleichgesetzt mit Bedeutungslosigkeit. In Bezug auf uns auch und gerade von der Öko- und von der Hipster-Bewegung. Das ist schade. Denn wir verstehen die Kleiderei auch als politisches Statement. Dabei achten wir aber darauf, bei aller Kritik und bei allen Missständen, von denen wir wissen, positiv zu bleiben. Wir wollen nicht immer sagen: So ist es scheiße. Wir wollen sagen: Hier ist eine Alternative, die ist cool, so macht’s Spaß, so kann man’s auch machen.

Dass den Kleiderei-Girls sowohl Mode als auch ihr Job Spaß macht, sieht man beiden an. Pola und Thekla sind seit Jahren Freundinnen. In Köln sind sie auf die gleiche Schule gegangen – und haben sich näher kennen und schnell auch lieben gelernt, nachdem sie auf einer Party spontan Klamotten getauscht hatten. „Danach bin ich eigentlich quasi sofort bei Thekla eingezogen“, erzählt Pola und schmunzelt. „Natürlich war unser Fußboden damals unser Kleiderschrank. Und schon damals haben wir gemerkt, wie hoch bei Klamotten der Reiz des Geliehenen sein kann. Weil es sich eben immer neu und spannend anfühlt.“
Wer sind Eure Kundinnen?
P: Alle. (lacht) Die Zielgruppe hat sich tatsächlich verjüngt, seit wir online sind. Wir hatten immer schon eine relativ breite Kundinnenschicht. So von Mitte 20 bis in die 50er. Was wir aber besonders schön finden ist, dass im Gegensatz zum Laden online jetzt auch 16- bis 19-Jährige dabei sind.
Ist die Nachfrage online auch deshalb so groß, weil vielerorts die großen Modeläden fehlen?
T: Nicht ausschließlich. Das sehen wir besonders durch unsere Kundinnen aus den großen Städten wie Hamburg oder Berlin. Da leihen sehr viele bei uns – obwohl sie aus einem Umfeld kommen, in dem man fast alles auch neu oder auf Flohmärkten kaufen könnte. Denen geht es schon bewusst ums Ausleihen.
Welche sind die Lieblingsteile im Kleiderei-Fundus?
T: Hochwertige Teile gehen schon gut. Und blau ist immer beliebt.
Und welche sind Eure Ladenhüter?
T: Ein bauchfreies Leotop. Das verstehe ich gar nicht! Ich selbst hab’ das schon drei Mal ausgeliehen!
Wo kommen die Kleider für die Kleiderei her?
T: Von Flohmärkten und mittlerweile vor allem von unseren Kundinnen. Wir halten die Kunden dazu an, ihre alten Lieblingsstücke mit zu uns zurückzuschicken.
P: Das wird sehr gut angenommen. Das ist wirklich schön! Viele legen auch Zettel bei, wo dann zum Beispiel draufsteht: Das Kleid hatte ich mal auf einer Hochzeit an, aber danach leider nie wieder.

Eine Situation, die fast jede Frau kennt. Wer statt immer mal wieder fehl zu kaufen lieber sicher bei der Kleiderei leihen will, bekommt für 34 Euro im Monat die Flatrate mit je vier Teilen für vier Wochen, alles per nachhaltigem Versand im Recyclingpaket. Die Teile darin kann sich jede Kundin selber aussuchen – oder einen Fragebogen ausfüllen und dann dank persönlicher Stilberatung ein Curated Borrowing buchen. Mit im Sortiment sind dabei auch Designerteile, vorwiegend von lokalen Labels wie black velvet circus, Musswessels, Herr von Eden oder Jan’n June.
Wie ist in der Kleiderei das Verhältnis Vintage zu neuen Designer-Teilen?
P: 80 zu 20 Prozent.
Warum kooperiert Ihr so gern mit Jungdesignern?
T: Weil man dadurch das gute alte industrielle Verhalten fördert: Sich mit den Menschen die für einen Arbeiten, mit den Stoffhändlern, mit den Nähern, ist ja an sich schon sehr nachhaltig. Da gibt es zwar nicht immer ein GOTS-Siegel dafür, aber man weiß eben, wo der Stoff herkommt. Man braucht ja auch kein Fair-Trade-Siegl, um seine Mitarbeiter gut zu bezahlen. Und so kooperieren wir mit vielen Labels, wie Ethel Vaughn zum Beispiel, die alles richtig machen – ohne dass sie dafür ausgezeichnet wurden.
Bei vielen jungen Labels, nicht nur in der Fashionbranche, klingt durch, dass Transparenz für den Kunden die Siegel ersetzt …
T: Cool, wenn’s so ist oder immer mehr so wird.
P: Ich glaub’ das ist einer der größten Irrtümer unserer Generation: dass alles mit’m Bio-Siegel auch gleichzeitig nachhaltig und Fair Trade ist. Wobei doch „buy local“ Bio ersetzen kann – und eigentlich muss.
Noch besser als Re- oder Upcycling ist ganz genau genommen aber eigentlich immer Vintage, weil es ja einfach auch schon so viele Klamotten gibt, oder?
P: Es gibt schon so unfassbar viele Klamotten! (lacht) Und es ist wirklich unglaublich, wie viele Ressourcen auch beim Recycling verbraucht werden.

Habt Ihr Euch oder hat sich Euer eigener Konsum verändert, seit Ihr die Kleiderei macht?
T: Ich hab’ schon immer gern auf’m Flohmarkt gekauft und bin gern in kleine Läden gegangen – aber klar haben wir jetzt viel weniger Klamotten zu Hause als früher. (lacht)
P: Deutlich weniger!
T: Gleichzeitig bin ich toleranter den einzelnen Teilen gegenüber geworden. Früher fand ich gerne auch mal Sachen echt schön hässlich – mittlerweile kann ich mir bei jedem Teil die Frau dazu vorstellen, an der es Bombe aussehen würde!
Abgesehen davon versuch’ ich aber auch generell, mehr mit Leuten über Mode zu reden. Ich finde das deutlich wichtiger und nehme das Thema Mode auch ernster als früher.
P: Das ist bei mir ähnlich. Und was auch neu und sehr schön ist, ist das große Netzwerk aus Designern, Bloggern, Journalisten, dass sich durch Kleiderei aufgebaut hat. Das gibt oft so ein richtig gutes und warmes Gefühl – einfach zu wissen, dass wir gemeinsam eine Bewegung in die gleiche Richtung machen. Die Energie, die sich dadurch aufbaut, ist echt toll. Und die hat mich sicher auch verändert.
Inwiefern?
P: Als dass ich auch mehr mit dem Netzwerkgedanken denke, mich frage: Wie können wir alle da noch mehr anschieben.
Wohin geht es weiter?
T: Manchmal vermissen wir einen eigenen Laden – da müssen wir noch mal sehen wie wir das entwickeln können.

Am 6. Mai startet der neue Franchise-Prototyp der Kleiderei exklusive in Köln. In dem Vintagestore xx können dort dann auch offline Teile ausgeliehen werden. Nicht das einzige neue Projekt der beiden: Morgen geht das erste Onlinemagazin der Kleiderei-Girls online: didyouever.de ist ein Portal für Mutproben, Grenzüberschreitungen und Dinge, die gesagt werden müssen. Und während wir über eine der nahen S-Bahnbrücken in Richtung Feierabend laufen und in Richtung Kleiderei winken, wissen schon: Das wollen wir lesen!
FOTOS: Simone Rudloff
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